Monats-Brief
November 2022
"Gehet in die Wälder und werdet wieder Menschen."
Jean-Jacques Rousseau
Vor einiger Zeit habe ich vom Küchenfenster aus ein kleines Mädchen beobachtet, das die Straße entlang lief und dann etwas tat, was mich sehr berührte. Sie war mit dem Schulbus gekommen und auf dem Nachhauseweg. Es war ein sonniger Tag. Der Schulranzen, den sie auf dem Rücken trug, erschien viel zu groß für das kleine, zarte Mädchen und sie lief etwas nach vorn gebeugt, um die Last besser tragen zu können. Vor dem Gesicht trug sie eine Maske, die sie vermutlich schon während des ganzen Vormittags in der Schule getragen hatte und vielleicht hatte sie einfach vergessen sie abzunehmen, obgleich sie jetzt draußen und allein war.
Plötzlich blieb sie ruckartig stehen, schaute auf ihren Schatten, der sich vor ihr auf der Straße zeigte, nahm ihren Ranzen und die Maske ab, warf beides auf die Seite in das Gras und begann zu tanzen. Ganz selbstversunken tänzelte sie anmutig mit ihrem Schatten und es war wunderschön mitanzuschauen. Die Hingabe, Freude und Leichtigkeit mit der sie diesen Tanz vollzog, ließen mir die Tränen in die Augen steigen.
Nach einiger Zeit des innigen Tanzes, erinnerte sie sich plötzlich, wo sie war, nahm ihren Ranzen wieder über die Schulter, die Maske in die Hand und eilte nach Hause.
Diesen Anblick werde ich nicht vergessen, weil es mich tief berührte. Es war zum Weinen schön zu sehen, wie dieses kleine Mädchen für einen Moment ganz bei sich war und die Verbindung von Licht und Schatten in tänzerischer Leichtigkeit vollzog. Sie warf buchstäblich alle Lasten ab und ließ ihrer kindlichen Freude freien Lauf. Vergessen waren Pflichten, Anordnungen und die Ängste der Erwachsenen. Hingebungsvoll tanzte sie den Tanz des Lebens und integrierte den Schatten in kindlicher Weise.
Was dieses kleine Mädchen noch in intuitiver Leichtigkeit vollzog, ist den Großgewordenen häufig abhanden gekommen, und wir können nur hoffen und es allen kleinen Mädchen und Jungen wünschen, dass sie sich diesen Schatz bewahren, bzw. ihn sich wieder erobern können. Denn es ist unsere Freude, unsere Freude an uns selbst, an unserer Lebendigkeit, die uns mit allem verbindet und die durch unsere Sinne für uns erfahrbar wird.
Mittels unserer physischen Sinne interagieren wir mit der Außenwelt und unsere inneren Sinne verbinden uns mit unserer Seele und mit der geistigen Welt. Ohne unsere Sinne könnten wir keine bewussten Erfahrungen machen. Je ausgeprägter sie sind, desto feinfühliger und wahrnehmender sind wir.
In einer Gesellschaft, in der Kindern auf vielerlei Arten die Sinne betäubt werden, kann sich der lebendige Geist der Freiheit nur schwerlich entfalten.
Wir Menschen sind das Bewusstseins-Wesen dieser Welt, dessen Selbst-Bewusstsein gerade erwacht. Erwachen bedeutet, unsere Wahrnehmung verändert sich; sie erweitert sich und wir nehmen deutlicher wahr, was in uns und um uns herum geschieht. Und natürlich führt dies auch zu entsprechenden Reaktionen auf der physischen Ebene.
Der Auf- und Abbau, der sich beständig in unserem Stoffwechsel vollzieht, ist eine Erscheinung der polaren Kräfte, die in uns wirken. Innen und außen kommunizieren beständig miteinander und indem wir uns dessen bewusst werden, verändert sich unsere Wahrnehmung und unser Leben. Wir werden hellsichtiger, hellhöriger und hellfühlender. Wir spüren feiner und unmittelbarer, was uns guttut und was nicht, was in Ordnung, in Harmonie mit dem Ganzen ist und was nicht.
Ein sinnliches und sinnvolles Vergnügen ist die Natur in ihrer Vielfalt und in all ihren Erscheinungen. In der Natur zu sein, in einem Garten, im Wald, am Wasser, in den Bergen, oder auch anderswo im Freien, kann ein echtes Freudenfeuer für unsere Sinne sein, soweit wir uns dafür öffnen können. Wir kommunizieren mit der Natur. Jede Zelle in unserem Körper atmet Lebensenergie und gibt sie auch nach außen ab. Alles ist miteinander verbunden, alles atmet und wiegt sich im Rhythmus der kosmischen Schwingungen. Die künstliche Welt ist dagegen ein Gefängnis, in dem die Sinne betäubt und die pulsierende Lebensenergie in Zellen gesperrt wird, wo alles kontrolliert und ängstlich überwacht wird. Die Frage ist: Wollen wir das?
Das Zitat von Jean-Jacques Rousseau erinnert uns daran, was für unsere Seele wirklich wichtig ist:
"Gehet in die Wälder und werdet wieder Menschen."
Besinnen wir uns. Besinnen wir uns auf das Wesentliche, auf das, was uns als Menschen wirklich ausmacht. Wir sind ein geistiges Wesen, ein Schöpferwesen, und so bedeutsam die Natur für uns ist, so bedeutsam sind wir auch für die Natur.